LA MORALITÉ NOUVELLE
LA MORALITÉ NOUVELLE: Monsieur Raphaël Tisserand, Schon die Novellierung des Kriegswaffenkontrollgesetzes im Jahr 2018 setzte der europäischen Rüstungsindustrie schwer zu. Mit dem vor Kurzen von den Vereinigten Staaten von Europa verabschiedeten Gesetz des Proliferationsverbots ist privaten Waffenhändlern in Europa praktisch die Geschäftsgrundlage entzogen worden. Wie gehen Sie mit dieser neuen Situation um?
TISSERAND: Die Branche war auf dieses Urteil natürlich mehrheitlich vorbereitet. Die Rechtsgutachten, die für diese Gesetzesvorlage erstellt wurden, zeigten uns schon damals die politische Richtung auf: Jeglicher privatwirtschaftlicher Waffenhandel ist nur noch unter der Voraussetzung zulässig, dass seitens der Händler nachhaltig kontrolliert werden kann, wohin die Waffen schlussendlich gelangen – ein Ding der Unmöglichkeit, von daher haben sie mit ihrer Beschreibung der Situation nicht ganz unrecht.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Wie sehen die von Ihnen angesprochenen Vorbereitungen der Branche aus?
TISSERAND: Viele Firmen haben ihren Geschäftssitz in die Schweiz verlagert, um in Europa überhaupt noch mit Zulassung Agieren zu können. Die Firmen beispielsweise, die schon früher aus Steuergründen im Kanton Zug ansiedelten, sind jetzt im strategischen Vorteil, da das bilaterale Abkommen zwischen den USE und der Schweiz neue Gewerbeanmeldungen in dieser Branche verbietet. Die Verbliebenen werden sich auf den Nahen Osten und Asien verlagern müssen, ein erheblicher Teil wird dabei auf der Strecke bleiben. Darüber hinaus ist der Handel in Europa schon lange nicht mehr wirklich lukrativ.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Ein zurzeit öffentlich diskutiertes Problem dabei ist, dass die Geschäfte, die bisher halbwegs staatlich kontrolliert aus den USE abliefen, in Zukunft in Regionen verlagert werden, in denen Ethik-Kommissionen und Reglementierungen unbekannte Begriffe sind. Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Waffen, mit denen sie handeln, nicht über Umwege in den Händen von Kindersoldaten oder in diktatorischen Regimen landen?
TISSERAND: Ich kann das nicht sicherstellen. Aber andererseits sehe ich mich auch nicht dazu beauftragt, die Verfehlungen der internationalen Politik zu korrigieren oder als eine wie auch immer geartete moralische Instanz zu agieren. Der Großteil meiner Kunden sind Regierungen. Wenn BASF hochtoxische Substanzen in den Sudan liefert, wohl wissend, dass diese nach Gebrauch in die freie Natur gekippt werden, stört sich die USE auch nicht daran. Und von den verschleiert gehaltenen Waffenliegerungen der BRD in den Achtzigern will heute auch niemand mehr etwas wissen. Mehr als zwei Millionen G-2- Gewehre geistern noch heute in den dubiosesten Ecken der Welt herum: inzwischen offiziell bestätigt, geliefert von der Bundesrepublik Deutschland.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Nach ihrem Wirtschaftswissenschaftlichen Studium arbeiteten sie lange Zeit in der Branche der Umwelttechnologie und vertrieben Wasseraufbereitungsanlagen. Was war der Auslöser für ihren Sinneswandel, von dieser sehr respektablen Branche in den Sektor der Rüstungsindustrie und dann in den privatwirtschaftlichen Waffenhandel zu wechseln? Hatten Sie damals keine moralischen Bedenken oder Skrupel?
TISSERAND: Hätten Sie mir mit 20 gesagt, was ich mit 40 tun würde, wäre ich wahrscheinlich vor Schreck erstarrt. Aber die Erfahrungen im Leben ändern sich, und die Überzeugungen divergieren daran.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Das klingt fast so, als wären Sie in Ihrer Jugend ein der Moral verbundener Mensch gewesen. Welche Einflüsse in Ihrem Leben haben sie derart beeinflusst, als dass wir Sie heute in einer solch inhumanen Branche wieder finden?
TISSERAND: Ich war in meiner Jugend lange Jahre ein Verfechter des Humanismus, ein überzeugter Anhänger der Kant’schen Lehre und des a priori wohlwollenden Menschenbildes von Thomas Hobbes. Ich habe mit Begeisterung Ludwig Feuerbach gelesen und war der Ansicht, dass sich die Welt in meiner Zeit tatsächlich nachhaltig zum positiven wenden könnte, wenn die Welt denn nur genug Engagement zeigen würde. Ich lag offenbar komplett falsch.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Die furchtbaren Anschläge am 21. April 2012 waren für Sie die Antithese, ihr Weltbild zu revidieren, um dann wirtschaftlich am globalen Mord und Totschlag zu partizipieren?
TISSERAND: Nein, Sie sehen das alles viel zu Intellektuell. Die Anschläge im April 2012 waren auch für mich ein neues Kapitel, aber sie haben mich nicht mehr wirklich überrascht. Ich spreche jetzt nicht von Politik. Der Mensch ist nicht annähernd ein so komplexes, vielschichtiges und weit blickendes Charaktere, wie Sie sich das in ihrer Situation vielleicht gerne vorstellen. Sie sind Redakteur der La Moralité Nouvelle, einer Links geprägten Wochenzeitung. Sie haben mich eingeladen, um an mir ein Klischee zu bestätigen, aber das liefere ich Ihnen nicht, das sehen sie schon.
LA MORALITÉ NOUVELLE: In unserem Vorgespräch machten Sie deutlich, dass Sie sich zu den Details Ihres Portfolios nicht öffentlich äußern wollen. Wir haben jedoch recherchieren können, dass Sie auch diverse Giftgase liefern, deren Handel noch vor der letzten Gesetzesnovelle gegen internationale Abkommen verstieß.
Wir möchten uns an dieser Stelle nicht in unpräziser Philosophie verlieren und wir haben Sie nicht eingeladen, um ein Klischee zu bestätigen, sondern um zu erfahren, wie ein aufgrund seiner Vita augenscheinlich humanistisch geprägter, lange Jahre dem europäischen Gedanken verbundener Bürger, sich eines Tages dazu entschließen kann, seine ganze Ethik über Bord zu werfen, um Giftgas zu verkaufen und Kriegswaffen an Terrorregime zu liefern.
TISSERAND: Ich habe es in meiner letzten Antwort schon erläutert. Es ist unspektakulärer als Sie denken und ohnehin unbedeutend. Um ihrem Feuilleton gerecht zu werden, ich hatte erkannt, dass Thomas Hobbes falsch lag und Jaques Rousseau die Welt erheblich realistischer beschrieb. Das war keine literarische Erkenntnis, sondern eine bittere Pille aus meinem eigenen Leben.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Sie sagten vorhin, dass für Sie die Anschläge vom 21 April 2012 nicht mehr waren, als ein „neues Kapitel“. Was war die bittere Pille in Ihrem Leben, die sie schlucken mussten?
TISSERAND: Sie sind unglaublich hartnäckig mit ihren Fragen über mein Seelenleben, aber in Ihrer Position müssen Sie das offenbar sein. Wir wären nicht in Frankreich, wenn sich eine linksliberale Wochenzeitung von einem Kapitalisten, noch dazu einem offenbar gewalttätigen, mit Relevantem abspeisen lasse würde.
Wir sitzen hier in der Quai d’Orsay und Sie möchten von mir gerne hören, dass ich als Kind geschlagen oder misshandelt wurde, damit Sie ihren gutmenschlichen Lesern erklären können, wie es sein kann, dass ein im Grunde vernünftiger Mensch einen so abgrundtiefen Hass auf diese Gesellschaft, ja quasi auf die gesamte Menschheit entwickeln kann, denn ihrer Überzeugung nach sind das die einzig nachvollziehbaren Voraussetzungen, um in dieser Branche arbeiten zu können.
Sie erwarten von mir eine intellektuelle Absolution, die Sie in Ihrer These bestätigt und sie mit einem wohlwollend bestätigenden Kopfschütteln eines Psychoanalytikers heute Abend mit in ihr Appartement geleitet. Aber manchmal sind die Gründe viel weniger Komplex. Manchmal reicht es vollkommen aus, fünfundzwanzig Jahre in einer freien Gesellschaft zu leben, um zu erkennen, dass das, was die Menschen und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sagen, und das was sie tun, zwei völlig verschiedene Dinge sind.
Unsere Gesellschaft ist nicht weniger Gewalttätig, als sie es noch vor zweihundert Jahren war, nur im Unterschied, dass heute niemand mehr körperlichen Schaden an den Gewalttaten anderer nimmt. Man kann hier einen Menschen dreißig Jahre lange Scheiße fressen lassen, und wenn er sich dann beschwert, fragt man ihn allen Ernstes, was er denn hätte, ob die Crème Brulée denn nicht gut war. Die Verwechslung von Freiheit mit Neoliberalismus und die damit einhergehenden gesellschaftssozialen Prägungen in den letzten fünfzig Jahren würden Charles Darwin in Erstaunen versetzen.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Sie sagen, sie haben einen abgrundtiefen Hass auf diese Gesellschaft. Sehen Sie sich heute in der Form einer Nemesis, um für das, was ihnen widerfahren ist, ausgleichende Gerechtigkeit herstellen zu können?
TISSERAND: Ich sagte nicht, dass ich hasserfüllt bin, ich sagte, dass Sie das von mir wahrscheinlich erwarten. Und ausgleichende Gerechtigkeit gibt es nicht, höchstens strafende oder vergeltende.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Was meinten Sie mit ihrer Anspielung auf Charles Darwin? Wenn man das, was sie bisher gesagt haben, in den Zusammenhang bringt, kann der Eindruck entstehen, dass Sie die Menschen an ihrer eigenen Vergangenheit strafen wollen, in dem sie ihnen bewusst Mordinstrumente an die Hand geben.
TISSERAND: Ich bin nur die zweite Instanz. Ich war mein Leben lang immer nur die zweite Instanz. Ich war immer der, der mit Überzeugung die andere Wange hingehalten hat und sich dann allen Ernstes gefragt hat, warum er nie wirklich vorankam. Wenn sich diese Gesellschaften, diese Aggressoren in erster Instanz nun gegenseitig umbringen wollen, dann bin ich nur der Ausführungsgehilfe, und ich habe dabei keinerlei Bedenken oder moralischen Skrupel mehr. In diesem Land - und wer ehrlich ist und es ernsthaft versucht hat, der weiß, dass es so ist - der zieht mit seiner Ehrlichkeit, seiner Menschenfreundlichkeit und seinen lauteren Motiven permanent den Kürzeren. Das meinte ich mit Darwin.
Es wird heute boshafter selektiert, als es die Natur jemals vorgesehen hatte. Nicht der, der besser ist, überlebt, sondern der, der das größere Arschloch ist und die kleineren Skrupel besitzt. Das läuft sowohl im Großen so, als auch im Kleinen. Was glauben Sie denn, an wen ich meine Produkte verkaufe? Etwa an bibeltreue Moralisten, die durch harte Arbeit und ethisch korrekten Eifer sich zu Staatspräsidenten hochgearbeitet haben? In der Geschichte der Menschheit saßen schon immer die größten Barbaren und Mörder auf den höchsten Positionen. In der Menschheitshistorie gab es noch keinen einzigen wirklichen Moralisten an der Spitze einer Regierung, der keine Leichen im Keller hatte, aber hunderte von psychopathischen Despoten, deren verkommener Charakter und deren Ellenbogen ihr effektivstes Kapital darstellten.
Der ganze Mensch ist so, und seit zweitausend Jahren steht er dieser Tatsache hilflos gegenüber und er wird das auch noch weitere zweitausend Jahre hinnehmen, wenn er sich nicht vorher selbst vernichtet.
Ich gebe hiermit in meiner zweiten Lebenshälfte die Frustration über diese Tatsache zurück, ganz nach den Spielregeln, und verkaufe der Gesellschaft das zurück, was ich in meiner ersten Lebenshälfte jahrelange selbst fressen musste.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Soll das die Hinterlassenschaft aus Ihrem Leben sein?
TISSERAND: Als Hinterlassenschaft möchte ich jedem dieser ganzen ideologisch Hoffnungslosen Fälle von verlorenen Gutmenschen mitteilen, dass sie auf Kant, Hobbes, Rotterdam und wie sie alle heißen, möglichst frühzeitig verzichten sollten. So viel destruktiver, herausgeschmissener und staatlich subventionierter Harmonieterror soll uns doch nur davon abhalten, die eigenen Augen aufzumachen, um die Spielregeln in diesem einzigen Sündenpfuhl zu erkennen. Denn dann könnten wir mitspielen, und genau das tue ich im Moment.
LA MORALITÉ NOUVELLE: Monsieur Tisserand, wir danken Ihnen für das Gespräch.